Was machst du eigentlich den ganzen Tag?

Stell dir vor du wirst gerufen, weil da jemand auf der Brücke steht und droht hinunterzuspringen (oder jemand was anzutun) und es ist DEIN Job ihn davon abzuhalten, ihn “runterzusprechen” damit er nicht springen muss.

Dummerweise ist auf der anderen Seite auch noch jemand, dessen Job es ist, den Springen-Wollenden dazu zu bringen auch wirklich zu springen. Dieser Jemand hat auch noch den Vorteil, dass er die Schwächen kennt und weiß welche Knöpfe er drücken muss, welche Worte er wählen muss, welche Wunden es gibt in denen er nur stochern muss.

Während du den Springen-Wollenden kaum kennst. Und vertrauen tut er dir auch nicht – weil er kennt dich ja kaum.

Vielleicht ist es das erste Mal dass ihr zusammentrefft, vielleicht passierte das schon viele viele Male – doch das macht nicht so viel Unterschied.

Du gehst da also hin und weißt, dass du jetzt die volle Aufmerksamkeit auf den richten musst, dir kein Zucken im Gesicht, keine Regung, keine  Bewegung entgehen darf, denn wenn dir was entgeht, könnte es genau der Moment sein, in dem du ihn ganz verlierst.

Deine volle Aufmerksamkeit und Konzentration ist darauf gerichtet, dass du keinen Moment übersiehst, denn ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit, des Nachlassens der Konzentration, wird der andere nutzen um den vernichtenden Schlag zu führen.

Egal ob du auf die Toilette musst, Durst oder Hunger hast, dir kalt ist oder warm – du kannst zwar versuchen dafür zu sorgen, dass ihr beide bessere Umstände bekommt, doch das geht nur, solange derjenige mitspielt – und das wiederum liegt daran wie sehr du bei der Sache bist. Denn der andere – wird das alles torpedieren – was auch immer du machst – du musst besser sein, aufmerksamer, authentischer.

Du wirst wütend werden und denken “ach spring doch wenn du meinst” oder aggressiv, weil du merkst, dass von den beiden so viel Aggressivität ausstrahlt (wenn auch vom Springen-Wollenden gegen sich selbst gerichtet), du wirst sauer werden, weil du dich so sehr anstrengst und das gar nicht richtig gewürdigt wird, denn das interessiert die beiden nicht so wirklich – für die bist du der Feind.

Du bist ganz allein auf dich gestellt.

Aber es ist dein Job, und den willst du gut machen – also harrst du aus – denn wenn du aufgibst – hat der, dem du helfen willst – auch verloren, alleine kommt er gegen diesen anderen nicht an.

Das weißt du.

Vielleicht liegt dir sogar etwas an dem der Springen will – auch wenn der das nie glauben wird.

Jede einzelne Sekunde musst du hellwach sein und 100 Prozent der Aufmerksamkeit der Situation gelten – nicht den Geräuschen um dich herum oder anderen Dingen – denn auf eine noch so kleine Ablenkung hofft dein Gegner.

Du verharrst da, sprichst mit ihm, versuchst ihn abzulenken, zu überreden – mit Argumenten zu überzeugen, die gar nicht richtig ankommen, denn für den sind sie neu.

Das was er kennt – ist das was der andere macht, das niedermachen, das entwerten, das “spring doch – tust du doch allen anderen auch einen Gefallen mit” oder das “verletz dich doch, tu dir weh, denn durch den körperlichen Schmerz, kannst du den in dir zurückdrängen” oder “dann siehst du dass du noch lebst – und wenn nicht – kannste immer noch springen”

Der andere ist dir immer einen Schritt voraus – hat zu jedem Argument ein Gegen-.

Und so sitzt/stehst du da – Minuten erst, dann Stunden, dein Körper wird schon ganz lahm, all dein Denken ist darauf ausgerichtet ein Gegengewicht zu diesem Anderen zu bringen und der bringt viele Argumente – hat das ja auch jahrzehntelang geübt, kennt jede noch so kleine Vertiefung in die er sich eingraben kann.

Du weißt schon gar nicht mehr wie stehen, bist unendlich müde – und weißt – da kommt keine Ablöse – und wenn du nicht mehr kannst oder willst – ist der andere verloren.

Du hast Mühe das die Konzentration und Aufmerksamkeit nicht nachlässt – und im Endeffekt geht es nur darum wer länger durchhält: du oder die Gegenseite.

Wenn die Gegenseite gewinnt, hast nicht nur du verloren sondern eben auch der Springen-Wollende – der ja eigentlich nur springen will, weil die Gegenseite so viel Macht über ihn hat – es ist nicht sein Wille – sondern die der Gegenseite, der er ausgeliefert war – viele viele Jahre – bis du kamst – und dein Job ist, da eine Art Gleichgewicht herzustellen.

Die Gegenseite, das sind die Widersacher, die Täterintrojekte, die Flashbacks, (Körper)Erinnerungen, die jeder Betroffene kennt – zur Genüge.

Du – das sind die Skills.

Und jetzt sag noch einmal, dass Skills ja keine Arbeit sind, dass es doch was schönes ist, sich was Gutes zu tun und dass der doch selbst Schuld ist wenn er springen will und dann halt springen soll.

Sag mir, dass du dir das wirklich vorgestellt hast, mit ganzem Herzen, ganzem Körper und ganzer Seele – und es nicht anstrengend ist ständig an diesem Abgrund zu stehen.

Noch dazu – der der am Abgrund steht hat ja nicht nur deinen Job zu erledigen, sondern auch den des Widersachers – auch das kostet Kraft – und dann ist da natürlich noch der, der nicht weiß wem er jetzt glauben soll, der einfach nur alles nicht mehr aushält und seine Seele dem Teufel verkaufen würde – nur für eine Minute Frieden in sich – und auch dieses aushalten müssen – kostet Kraft.

Manchmal dauert es nur Minuten, meistens jedoch Stunden oder gar Tage – dieser Kampf.

Je vertrauter man ist, je häufiger man sich getroffen hat, desto besser kennt man sich – doch dieses Aufmerksam sein, jeden einzelnen Moment, weil sonst die Widersacher sofort die Zähne in ihr Opfer schlagen – und dann natürlich auch das Handeln, denn du musst die Gunst der Stunde ja auch nutzen, wenn wirklich mal mehr dir Raum zusteht, das ständig abwägen was angesagt ist – ein Ablenken, ein Mut machen, ein Fordern, ein einfach nur da sein, ein Ausweg suchen, ein zugestehen dass es grad eine Sch…. Situation ist usw – das kostet Kraft.

Aber all das passiert ja “Innen” – das ist keine körperliche Arbeit oder man sieht am Ende ein fertiges Werkstück – das einzige was man sieht ist: derjenige lebt noch. Hat sich vielleicht nicht verletzt – oder nur wenig – und das wird dann schon oft als Versagen titutliert.

“Du hast doch gar nichts gemacht”, “Ist doch schön den ganzen Tag zu Hause zu sein und nichts tun zu müssen”, “nicht mal den Haushalt kriegste hin? Was soll ich da sagen – ich hab drei Kinder – du bist nur alleine”, “wie du brauchst Ruhe – hast doch eh den ganzen Tag nichts zu tun”.

Ja du hast recht – ich hab nichts zu tun – gar nichts – außer dem ständigen Kampf gegen diese Gegenseite, die Widersacher, die Täterintrojekte, die Flashbacks, die Ängste. Ich hab nichts zu tun – außer zu überleben. Und wehe ich muss mal für eine kurze Zeit nicht kämpfen sondern kann sogar mal durchatmen – dann versteht man das natürlich erst recht nicht.

Das nächste Mal wenn dir jemand unterkommt, der vermeintlich nur faul zu Hause sitzt (und ja – klar gibt es die), dann frag dich mal, warum das vielleicht so ist. Ob es in D wirklich so einfach ist die Rente zu bekommen – oder ob da die Gutachter, die das eh viel zu oft nicht sehen, dann schon arge Mängel festgestellt haben müssen.

Und geh mal in dich – und frag dich, ob du tauschen wollen würdest und diesen obigen Kampf  Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr auf dich zu nehmen – da gibt es keinen Urlaub oder freinehmen, da gibt es kein “ich bin krank und hab die Grippe” oder ähnliches.

Ob du deinen Job den du 40 Stunden die Woche machst – gegen einen 100 – 130 Stunden die Woche tauschen willst (und da war ich schon großzügig mit Abzügen, denn auch im Schlaf suchen dich die Widersacher heim – Alpträume sind fast Alltag)

So das musste ich jetzt mal loswerden – liegt mir schon seit ein paar Tagen auf der Seele – auch wenn ich denke, dass die, die sich angesprochen fühlen sollten das eh nicht zu Ende lesen.

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siehe auch:
Was sind Skills eigentlich?

9 Antworten zu Was machst du eigentlich den ganzen Tag?

  1. Kira schreibt:

    ..wahnsinn, du sprichst / schreibst wirklich das was ich hätte nie beschreiben können. Genau so ist es!(leider).. und leider versteht es kein „Außenstehender“.
    Ich möchte mich bei Dir bedanken, zwar kenne ich dich nicht aber deine Texte sprechen mir aus der Seele. Ich habe das Gefühl das sie auch mir irgendwie helfen mich Stück für Stück ein bisschen besser zu verstehen.
    Danke dafür.
    Ich wünsche dir alles Gute,
    Kira

    • Ilana schreibt:

      Herzlich Willkommen hier :). Danke. Ich kenn das Gefühl, wenn jemand etwas in Worte fasst, dass für einen selbst so – unfassbar ist irgendwie. Manchmal braucht es einfach nur Zeit – und man ist noch nicht an dem Punkt, wo das geht – aber mit jedem Schritt näher zu sich selbst, finden sich auch bessere Erklärungen.

  2. marc schreibt:

    hier ist der sehr seltene glückliche umstand eingekehrt,daß da jemand ist,der die fähigkeit hat,über sich und seine tiefen inneren konflikte zu reflektieren und sie gleichzeitig rhetorisch bildlich darzustellen.du hast ein sehr seltenes talent!
    vielen dank für diese worte…
    marc

  3. Stefanie schreibt:

    Sehr gut beschrieben!!! So ähnlich beschreib ich das auch wenn mich mal jemand fragt. Meistens wollen sie es so genau jedoch nicht wissen- geht doch ihre Vorstellung von „den ganzen Tag faul zu Hause sein“ völlig kaputt dabei und gegebenenfalls regt sich in ihrem Inneren eigene Angst oder eigener Schmerz…das ist viel zu gefährlich…umso wichtiger, dass es Menschen gibt wie Dich- die darüber schreibt- oder mich- die dann eben nicht die Klappe hält(:Liebe Grüße

  4. Zoja schreibt:

    Mal wieder am Abgrund stehend, zum hundertsten Mal hörend, es würde mir sicherlich besser gehen, wenn ich nicht den ganzen Tag Zeit hätte, um mein Elend zu kreisen, während ich einfach nur zu Tode erschöpft bin davon, am Leben zu sein, sein zu MÜSSEN, um der Anderen (im Außen) willen, erschöpft auch davon, dauernd noch für Andere dazusein, weil ich ja nur leben DARF, wenn ich nützlich bin, und als Rezept gegen meine Misere immer wieder nur zu hören „mach Dich nützlich“… tut es mir so unendlich gut, zu klar ausgedrückt zu finden, was ich erlebe. Ich war drauf und dran, mich mal wieder als Komplettversagerin FaulesStück, selbstbemitleidend, disziplinlos, egozentrisch, faul, faul, faul zu sehen, rauszugehen und mir jedemanden zu suchen, der mich endlich endgültig fertigmacht. Danke Dir. DU hast Recht. Es IST harte Arbeit. Ich habe Grund, erschöpft zu sein und nicht viel Zusätzliches tun zu können im Moment. Puuuuuh…

  5. Aida schreibt:

    Hallo, ich habe diese Seite entdeckt, auf der Suche nach Menschen die ähnliches erleben und jetzt tropfen beim Lesen die Tränchen auf die Tasten, weil die Texte mir so aus dem Herzen sprechen…Danke!

    Fühle mich mit meinem täglichen Dämonenkampf schon sehr routiniert, was mir aber wirklich zu schaffen macht ist eben die Konfrontation mit den „Normalen“, dem Unverständnis oder manchmal nur Überforderung der Menschen. Ich habe aufgehört offen über meinen Zustand zu sprechen. Kann sehr gut überspielen, sogar wenn ich dissoziiere, kann ich so tun als wär ich lustig drauf…was bleibt ist dann der Eindruck ich sei eben zerstreut und verpeilt, tollpatschig und bisweilen launisch…aber niemand ausser einer Freundin weiss was wirklich in mir vorgeht. Früher hab ich darüber ,mit jedem gesprochen und damit keine offenen Türen eingerannt. es ist vielen unangenehm. Oft habe ich das Gefühl man glaibt mir nicht, denkt ich übertreibe….

    Ich fühle mich damit soooo befangen und unendlich einsam…Dieses Überspielen presst mir die letzte Kraft aus und sobald ich alleine bin fällt alles zusammen wie ein Kartenhaus. Mein Umfeld weiss nichtmal, dass ich so viel zu hause bin…ich schäme mich meiner Unproduktivität!

    Puh…ich würde gerne noch mehr von Euch lesen, wie Ihr damit umgeht!

    Liebe
    Grüße
    Aida

  6. Alex schreibt:

    Wahnsinn, besser hätte ich es nicht beschreiben können. Der immer wiederkehrende Kampf, der Sieg der Skills durch Erfahrung, Niederschlag, Erinnerungen. Die Skills können auch die Gegenseite ausbooten indem sie Gegenargemente bringt die aus Erinnerungen beruhen. Würde es dann so beschreiben, wenn man es als Verhandler sieht:
    Hast du es schon mal versucht?
    Ja ist fehlgeschlagen.
    Wie fühlte es sich an?
    Grausam.
    Warum nochmal? War der Kampf danach schwieriger als das Gefühl wieder da zu sein?
    Ja.
    Wie haben deine Liebsten reagiert?
    Waren erschüttert, traurig, verwirrt, haben sich Vorwürfe gemacht.
    Wie war es für dich das zu sehen?
    Unterträglich.
    Machst du dir Vorwürfe, schämst du dich für den Versuch?
    Ja.
    Warum also nochmal?
    Kann nicht mehr kämpfen, habe keine Kraft mehr.
    Aber du hast doch Angst diesen Schritt zu machen. Der kostet auch Kraft, richtig?
    Ja, mehr als alles andere, aber danach ist es vorbei.
    Und was wenn es wieder schief geht, wie glaubst du werden deine Liebsten reagieren?
    Das würde ich nicht aushalten, das schaffe ich nicht.
    Kannst du dir wirklich sicher sein, dass du wirklich nicht mehr aufwachst?
    Ich weiß es nicht, hoffe es.
    Aber sicher kannst du nicht sein.
    Habe alles genau geplant und vorbereitet.
    Wie das letzte Mal?
    Ja … geht einen Schritt zurück, sackt verzweifelt zusammen.

    Bisher konnte ich diesen Konflikt nie in Worte fassen, weil ich nicht wusste wie ich es beschreiben soll. Lese deinen Text und kann es kaum fassen, wie gut du es in Worte fassen kannst. Danke dafür und dass ich dank dir wie es scheint endlich die richtigen Worte finden konnte.

    • Alex schreibt:

      Nachtrag: Denke mir nur immer wieder: was hast du bisher erreicht, soll das alles umsonst gewesen sein? Willst du denen, die dir das angetan haben, gewinnen lassen? Ja in den letzten Jahren habe ich etwas geschafft, wenn auch wenig und unter Schmerzen. Doch gerade diese, sage ich mir sollen nicht umsonst gewesen sein. Der tägliche Kampf. Und dann verändert sich wieder was. Und die ein zwei Schritte die ich mühevoll voran gegangen bin, gehe ich wieder zurück. Und die Dämonen sind wieder gestärkt und arbeiten mit neuen Kräften. Und der tägliche Brainf..k geht in eine neue Runde. Dann blicke ich wieder zurück und versuche daran zu denken wie weit ich meinem Ziel vorran gekommen bin. Klappt leider nicht immer. Bin dafür dann einfach zu müde. Während dieser Zeit verkrieche ich mich und möchte meine Ruhe. Gut dass es wenige Leute gibt, die mich schon so gut kennen und dann nerven ohne Ende um mich rauszulocken.

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