Gestern hatte der Bruder Geburtstag, mit dem ich noch Kontakt habe. Kontakt, der eigentlich erst nach dem Abbruch des Kontaktes zu den anderen wirklich entstand. Davor hatten wir kaum was miteinander zu tun. Er ist acht Jahre älter und irgendwie hatte ich als Kind mit ihm nicht wirklich was zu tun. Dann zog er aus und außer zu Weihnachten sah ich ihn gar nicht mehr.
Er hatte sich etwas abgesetzt von der Familie, was natürlich nur seiner „bösen Frau“ verschuldet hat – damit wuchs ich auf. Erst viel später verstand und merkte ich, dass es anders war und ist.
Trotzdem – auch als Erwachsene hatten wir nicht wirklich Kontakt. Sahen uns nur, wenn halt andere Geschwister den Kontakt schufen.
Als ich alle Geschwister über meinen Kontaktabbruch zu den Eltern informierte – und über das warum – erst da entstand ein zaghafter Kontakt zu ihm. Während die anderen Kontakte einschliefen oder eben abbrachen.
Heute haben wir regelmäßig Kontakt und ich schätze ihn sehr. Es ist sicher nicht das typisch Schwester-Bruder-Verhältnis, es ist keine enge Bindung, aber ich bin sehr dankbar für ihn und dass wir diesen Kontakt pflegen.
Heute hat mein jüngster Bruder Geburtstag. Als ich den Kontakt zu den Eltern abbrach, wusste ich, dass ich damit auch den Kontakt zu ihm verlieren werde. Deshalb brach ich den Kontakt zur Mutter erst so spät ab. Als ich ihn in Sicherheit wusste.
Zu oft die Drohungen „dann bring ich halt S. und mich um“ – die nur Drohnungen waren und mir schon als Jugendliche nur noch ein innerliches „ach bring dich doch endlich um!“ entlockten.
Aber S. – den hab ich die ersten Jahre großgezogen. So ist das in Großfamilien, die Großen sind für die Kleineren zuständig. Er ist 15 Jahre jünger als ich und die meisten glaubten sowieso, er sei von mir.
16 war er, als ich den finalen Schritt ging. Ihn in seinem Internat und von meinem Bruder gut versorgt wusste und vor allem in Sicherheit – nicht da, wenn sie den Brief bekam.
Aber ich wusste auch, dass der Bruder, der sich um ihn mit kümmert, sich auf die Seite der Mutter stellen würde – ganz klar. Als der Brief ankam, rief er an, sprach: „du bist für mich gestorben“ und legte wieder auf.
Auch das wusste ich. Ebenso wie klar war, dass der 16jährige von Leuten umgeben sind, für die ich gestorben bin, die kein gutes Haar an mir lassen würden – und ihn entsprechend prägen.
Ihn hatte ich natürlich nicht über das warum informiert. Wie sag ich einem 16jährigen, der nunmal wirklich nichts mitbekommen hatte, dass seine Eltern gequält und missbraucht haben? Eltern, die – wie wir alle, das gehörte ja zum „System“ – für ihn fast gottgleich waren.
Nur wer aus dem System aussteigt, kann an dieser Ansicht was ändern – und aussteigen heißt eben auch Kontaktabbruch.
Er war doch noch ein Kind. Länger warten hätte nicht viel geändert. Mir war nur wichtig, dass er erstmal in Sicherheit ist, ihm nichts passieren wird.
Und das war da. Er hatte sich im Internat eingelebt, fühlte sich dort wohl, war nach den ersten paar Ferien grade wieder dort – weit weg von zu Hause.
Ich hab ihm geschrieben, ihm erklärt, dass ich den Kontakt zu den Eltern aus Gründen abbreche, die zwischen denen und mir liegen, dass es mit ihm nichts zu tun hat. Dass ich ihn immer noch lieb hab und für ihn da bin, wenn er das möchte. Es aber auch seine Entscheidung ist.
Weil ich natürlich wusste, wie es ist, zwischen zwei Fronten zerrissen zu werden, dass es nicht möglich ist, man sich für eine Seite entscheiden muss, um in diesem System klar zu kommen – und dass er auf dieses System, auf die Eltern, den einen Bruder – immer noch angewiesen ist – weil er noch Kind ist.
Eine Weile hab ich ihm zum Geburtstag noch eine SMS geschickt. Bis es nur wenige Jahre später die Nummer nicht mehr gab.
Einmal noch hab ich in über Facebook angeschrieben. Da war er schon erwachsen, stand auf eigenen Beinen. Trotzdem war die Bindung vor allem zur Mutter noch sehr eng.
Schrieb, dass mein Angebot immer noch steht, dass er heute auch erwachsen ist und wenn er wissen will warum, kann er mich das fragen. Hab ihm Kontaktmöglichkeiten genannt – und wiederholt – dass es seine Entscheidung sei.
Er hat es gelesen, Reaktion kam keine. Hab ich aber ehrlichgesagt auch nicht erwartet.
Wie bei allen anderen ist es auch hier so, dass sich die Geschwister entscheiden müssen: Mutter oder wie ich ausgestossen werden. Bei allen wusste ich, wie sie sich entscheiden würden. Zu viele Abhängigkeiten, das System funktioniert und aussteigen ist mehr als nur schwierig.
Trotzdem ist er der Bruder, den ich vermisse. Bis zur Schule war ich für ihn verantwortlich. Hab mich um ihn gekümmert, war seine Bezugsperson. Dann zog ich weg, kehrte aber immer noch regelmäßig nach Hause – wegen ihm.
Für ihn war es dennoch ein Bruch. Das wusste ich, aber wenn man selbst ums irgendwie überleben kämpft wird das zweitrangig. Vor allem weil ich wusste: wenn ich weiter für ihn da sein will, ihn beschützen will, muss ich gehen.
Bis zum Kontaktabbruch hab ich ihn auf vielerlei Art und Weise schützen können. Nur deshalb hab ich nicht früher abgebrochen.
Ich hab geschmeichelt, Geschwister mit eingespannt, dafür gesorgt, dass er auf das Internat kann, auf das er wollte, hab der Mutter auch ganz konkret mit Polizei und Anzeige gedroht, wenn sie ihn da mit reinzieht. Konnte verhindern, dass er das erleben musste, was ich oder die anderen erdulden mussten. Konnte einiges im Keim ersticken und dafür sorgen, dass er wirklich ohne all dem Mist aufwachsen kann.
Aber vor dem System konnte ich ihn nicht beschützen. Nur dafür sorgen, dass die, die da noch mit drin steckten, mit darauf acht gaben, dass er weitestgehend „behütet“ aufwachsen kann.
Nur so war es möglich. Bei D., die ja nur wenige Monate jünger war, klappte das nicht. Weil die anderen da nicht mitzogen, sich ganz auf S. konzentrierten.
Mir ist klar, dass auch das System Schäden anrichtet, aber damit kann er hoffentlich dennoch irgendwann ein normales und vor allem glückliches Leben führen. Ob innerhalb oder außerhalb dieses Systems.
Es scheint, dass es ihm gut geht – und ich hoffe so sehr, dass es nicht nur Schein ist.
Happy Birthday.